Täglich eine Beinahe-Katastrophe? Jörg Sommer über eine Politik des Verschweigens und Vertuschens

Die Geschichte der Atomenergie ist eine Geschichte von Unfällen, Katastrophen und Vertuschungen. Die so genannte „friedliche“ Nutzung der Atomenergie war niemals friedlich. Sie war es deshalb nicht, weil viele Staaten den Einstieg in die Atomenergie weniger als Energieprojekt, sondern eher als Einstieg in die eigene atomare Militärtechnik sahen. Entsprechend rücksichtslos wurde dies dann ggf. auch gegen die eigene Bevölkerung durchgesetzt. Wer die Bilder von den ersten Auseinandersetzungen um Brokdorf, Wyhl oder die regelmäßigen Auseinandersetzungen im Wendland noch im Kopf hat, der denkt dabei eher an Bürgerkrieg denn an „Friedlichkeit“.

Wenig friedlich war und ist dabei auch der Umgang mit dem hoch radioaktiven Müll. Lange Zeit wurden radioaktive Abfälle völlig legal in den Meeren verklappt, bis dies 1994 zumindest für Feststoffe von der International Maritime Organization (IMO) verboten wurde. Sämtliche Atommüll produzierenden Länder hatten bis dahin in weniger als 50 Jahren wesentlich mehr als 100.000 Tonnen radioaktiven Abfall im Meer versenkt.

Die USA haben gegenüber der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO) eingeräumt, von 1946 bis 1970 über 90.000 Container mit radioaktivem Abfall vor ihren Küsten versenkt zu haben.

Laut Nuclear Energy Agency (NEA) und der IAEO haben neun Staaten an 15 Stellen im Nordostatlantik bis 1982 insgesamt 114.726 Tonnen Atommüll in 222.732 Fässern versenkt. Auch aus Deutschland wurden einige hundert Tonnen Atommüll im Meer entsorgt – auf Initiative und unter Beteiligung staatlicher Stellen. Die Öffentlichkeit wurde nicht informiert und erfuhr erst in den 80er Jahren davon.

Diese Politik des Verschweigens und Vertuschens hat eine lange Tradition, die bis heute ungebrochen ist. Nur so ist es zu erklären, dass die meisten Bundesbürger auf die Frage nach der Anzahl jährlicher Störfälle in deutschen AKWs Null oder eine niedrige einstellige Zahl schätzen. Dabei wurden seit 1980 über 650 meldepflichtige (!) Ereignisse registriert. Weltweit gibt es faktisch jeden Tag mehrere Störfälle. Kein Wunder, dass es auch eine lange Liste von „kleinen“ und großen Katastrophen gibt.

Für Deutschland ist der erste atomare Zwischenfall, bei dem Menschen beeinträchtigt wurden, bereits für 1942 verzeichnet: Im Labor des Experimental-Physikers Prof. Robert Döpel explodierte eine so genannte Uranmaschine unter Verbrennung des eingesetzten Uranpulvers. Zwei Tage dauerten die Löscharbeiten, bei denen Dutzende von Feuerwehrleuten der radioaktiven Strahlung ungeschützt ausgesetzt waren.

Seitdem kam es immer wieder zu nuklearen Katastrophen – einen kleinen Überblick bietet der Kasten auf Seite 7. Dort aufgeführt sind lediglich einige der durch Unfälle verursachten Katastrophen – von bewusst herbeigeführten Kriegsverbrechen, wie in Hiroshima und Nagasaki, ganz zu schweigen. Es gibt bis heute keine wissenschaftlich fundierte Schätzung der Opferzahlen, zumal gerade die Erfassung langfristiger durch atomare Zwischenfälle bedingte Krebserkrankungen unglaublich schwierig ist. Eine mindestens zweistellige Millionenzahl scheint aber realistisch.

Die Geschichte zeigt: Die Reihe der Katastrophen reißt nicht ab – und in jedem einzelnen Fall versuchen Betreiber und oft auch staatliche Stellen die Krise zu vertuschen oder zu banalisieren. Das gilt für Unfälle in aktiven AKWs ebenso wie in Wiederaufbereitungsanlagen, Zwischenlagern oder im Uranbergbau.

Eine kleine Liste großer Katastrophen

29. September 1957 – Kyschtym (Sowjetunion): In der Wiederaufbereitungsanlage explodieren mehrere Tanks. Die nähere Umgebung wird mit der doppelten Menge des Tschernobyl-Unfalls belastet. Da sich die Kontamination auf den Ural beschränkte, schlugen Messgeräte in Europa nicht Alarm, wodurch der Unfall 30 Jahre vor der Weltöffentlichkeit geheim gehalten werden konnte.

7. Oktober 1957 – Sellafield (Großbritannien): Ein Atomreaktor zur Produktion von Material für Atombomben überhitzt und große Mengen Radioaktivität gelangen ins Freie. Bei der Flutung des Reaktors zur Abkühlung entgeht die Region nur knapp einer Explosion von katastrophalem Ausmaß.

26. Juli 1959 – Simi Valley (USA): Aufgrund eines verstopften Kühlkanals kommt es zu einer 30 prozentigen Kernschmelze. Die radioaktiven Gase werden größtenteils an die Umwelt freigesetzt – eine der größten Freisetzungen von radioaktivem Jod in der Nukleargeschichte. Auch dieser Unfall wurde lange Zeit geheim gehalten.

21. Januar 1969 – Lucens (Schweiz): Beim Versagen des Kühlsystems gibt es eine partielle Kernschmelze. Die radioaktive Strahlung wird anschließend über einen längeren Zeitraum „kontrolliert“ an die Umgebung abgegeben. Bis 2003 lagerten die Trümmer des Unfalls auf dem Gelände.

28. März 1979 – Three Mile Island (USA): In einem Kernkraftwerk bei Harrisburg führen Versagen von Maschinenteilen und Ausbleiben von Messsignalen sowie Bedienungsfehler zur partiellen Kernschmelze (50% des Kerns) und zur Freisetzung von großen Mengen radioaktiver Gase.

26. April 1986 – Tschernobyl (Sowjetunion): Bei einem Super-GAU im Block 4 des Kernkraftwerkes Tschernobyl in der Ukraine kommt es zu einer Kernschmelze und in deren Folge zu Explosionen. Große Mengen Radioaktivität werden freigesetzt, die unmittelbare Umgebung stark kontaminiert. Es gab zahlreiche direkte Strahlenopfer unter den Hilfskräften.

11. März 2011 – Fukushima (Japan): Aufgrund von Schäden bei der Stromversorgung und an Kühlsystemen, die durch ein Erdbeben und den folgenden Tsunami verursacht werden, kommt es zu mehreren Explosionen. Bis heute gelangen große Mengen von Radioaktivität ins Meer und in die Atmosphäre.