Wem gehört die Welt? Jörg Sommer über die Renaissance der Allmende

Genau 100 Seiten umfasst das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes, dass Stephan Pütz im Dezember 2012 zugestellt wurde. Die Essenz: Jean Pütz verliert sein Haus, seinen Grund und Boden. Nicht etwa, weil er seine Hypotheken nicht bezahlen konnte oder irgend ein Vergehen begangen hatte. Sein einziger Fehler: Sein Haus am Rande von Erkelenz stand dem Energiekonzern RWE im Wege. Der nämlich wollte dort Braunkohle abbauen. Und das in einem Umfang, der suggeriert, das Wort Energiewende sei noch nie gefallen. Der Braunkohleabbau in Nordrhein-Westfalen soll bis 2045 andauern und ein Gebiet von 4800 Hektar umfassen, rund 7000 Menschen sind von Zwangsumsiedelungen betroffen. Wenn das Recht des Bürgers auf Eigentum an Grund und Boden mit den Interessen der großen Konzerne kollidiert, geht es häufig so aus wie in diesem Fall.

Das ist schlimm für die Betroffenen. Heute ebenso wie vor 160 Jahren. Damals hielt Lushootseed Si’ahl, später verballhornt zu „Häuptling Seattle“, eine Rede, die zwar nicht schriftlich aufgezeichnet wurde, aber bis heute legendär ist. Die Suquamish im Nordwesten der USA sollten 1854 dazu gezwungen werden, den Weißen ihr Land zu verkaufen. Damals gab es kein Verfassungsgericht, das sie anrufen konnten, es gab auch keine Klage. Was auch daran lag, dass den Suquamish der Gedanke, Land zu „verkaufen“ schlicht unvorstellbar war:

„Wie kann man den Himmel kaufen oder verkaufen – oder die Wärme dieser Erde? Diese Vorstellung ist uns fremd. Wenn wir die Frische der Luft und das Glitzern des Wassers nicht besitzen – wie könnt ihr sie von uns kaufen? “

Nicht nur den Ureinwohnern Nordamerikas war der Gedanke schwer zu vermitteln, man könnte Teile der Erde „besitzen“. Das Konzept des Landbesitzes ist im Verlauf der Menschheitsgeschichte erst spät entstanden.

Die Perversität des Privaten

Solange sich die Menschen vom Sammeln und Jagen ernährten, gab keinen Anlass für solche Überlegungen. Vorübergehend nahm man Höhlen in Besitz, verteidigte sein aktuelles Revier. Doch zogen die Beutetiere weiter, zog man eben mit. Privatbesitz an Boden? Wozu auch? Spannend wurde dies erst mit der Entwicklung des Ackerbaus. Als der Mensch lernte, die Erde nach seinen Wünschen zu gestalten, wurde der Privatbesitz an dieser gestaltbaren Erde interessant – aber setzte sich dennoch über Zigtausende von Jahren nicht flächendeckend durch.

Selbst in Europa kannten wir bis vor wenigen Generationen noch das Konzept der so genannten Allmende. Der Begriff entstand im Hochmittelalter als „al(ge) meinde“ oder „almeide“ und bezeichnete ein im Besitz einer Dorfgemeinschaft befindliches Grundeigentum. Die Allmende war also durchaus nicht „besitzloses“ Land. Sie gehörte jedoch nicht Individuen, sondern der Gemeinschaft. Sie wurde gemeinschaftlich gepflegt und bewirtschaftet. Die Erträge wurden gemeinschaftlich genutzt. In Deutschland zum Beispiel gab es im frühen Mittelalter praktisch in jedem Dorf eine Allmende.

Das Konzept hatte sich bewährt, weil es zum Beispiel die Versorgung mit Brennholz, Wild und Futter für die Tiere sicherstellte – und das über viele Generationen hinweg. Denn die Allmende wurde stets nachhaltig bewirtschaftet, kurzfristige persönliche Ausbeutung wurde nicht geduldet. Doch mit der Entwicklung der Produktivkräfte stieg auch die Gier ihrer größten Nutznießer: Im 15. und 16. Jahrhundert eigneten sich in weltliche Herrscher die Gemeindeflächen an. Dieser so genannte Allmende-Raub, war einer der Auslöser für den deutschen Bauernkrieg.

Die Allmende lebt bis heute

Von da an ging die Allmende in Europa weitgehend zurück. Allerdings konnte sie sich in einigen Bereichen noch erhalten. Insbesondere dort, wo das Land aufgrund geografischer oder klimatischer Gegebenheiten nach wie vor nur extensiv bewirtschaftet werden kann. Im ganzen Alpen- und Voralpenraum existieren Allmenden bis heute. In Südamerika, aber auch in Afrika und Asien spielen Allmende-ähnliche Gemeinflächen noch heute ein große Rolle. Die meisten Dörfer Afrikas verstehen ihre Äcker als Erbe aller, das sie gemeinsam bewirtschaften.

Doch Allmenden sind nur dort ungefährdet, wo eine intensive Landnutzung wenig attraktiv ist. Kommen gar Bodenschätze ins Spiel, sind auch heute noch brutale Landnahmen die Regel. Tatsächlich beobachten wir nach wie vor eine starke Tendenz zur Privatisierung von Allmenden und Allmendegütern. Der US-Ökonom Michael Hudson hält es für äußerst gefährlich, dass private Banken sich vom Kreditgeschäft ab- und dem Aufkauf von natürlichen Ressourcen und Gemeingütern (vom Boden bis hin zu Universitäten) zuwenden. Er kritisiert in seinem Buch „The Bubble and Beyond“, dass die Austeritätspolitik von Weltbank und IMF besonders betroffenen Staaten dazu zwingt, ihre Allmendegüter zu ungünstigen Konditionen zu privatisieren. Daraus können die Finanzinvestoren hohe permanente Renten beziehen. So sieht der Allmende-Raub im 21. Jahrhundert aus.

Ein altes Konzept mit neuem Potential

Zugleich erleben wir aber in den entwickelten Industriegesellschaften so etwas wie eine „Renaissance der Allmende“. Auf der Suche nach Bewältigungsstrategien für die ökologischen Krisen des 21. Jahrhunderts rückt die Allmende als Konzept der Nachhaltigkeit wieder in den Fokus. Kollektive Verantwortung für kollektiven Besitz spricht immer mehr Menschen an und ist Bestandteil vieler experimenteller Lebens- und Arbeitsformen. Junge Menschen überall auf der Welt haben „Besitz“ als einen wesentlichen Verursacher für die großen gesellschaftlichen und ökologischen Probleme unserer Zeit ausgemacht. Sie hinterfragen den Sinn von privatem Eigentum in allen Bereichen des Lebens und stellen diesem Privaten Eigentum die kollektive Nutzung von Ressourcen entgegen. Dabei beziehen sie sich nicht nur auf Grundbesitz, sondern experimentieren in vielen Bereichen des Alltags. Carsharing-Konzepte ersetzen Privatbesitz an Fortbewegungsmitteln, Workspace-Angebot machen private Büroräume überflüssig. Nicht genutzte private Lebensmittel werden von Foodsharing-Initiativen gerettet und neu verteilt. Urban Gardening Initiativen schaffen Kleinstallmenden in der Stadt.

Längst zeigen diese Initiativen bereits Wirkung im Großen. In Nordamerika beruht das Projekt Buffalo Commons zur Wiederverbreitung des Amerikanischen Bisons in den Great Plains auf dem Prinzip der Allmend-Bewirtschaftung. Dort wird der großflächige Ackerbau in den Great Plains zugunsten der Weidenutzung durch weitgehend wild lebende Bisons aufgegeben. Der Plan geht davon aus, dass neben dem erwarteten neuen Tourismus auch die Vermarktung des Fleisches der wilden Büffel den Menschen der Region wieder eine sicherere Zukunft bringen kann.

Auch in Deutschland kommen Allmende-Konzepte zunehmend aus der Nische. Die Debatte um die Nutzung des Tempelhofer Feldes in Berlin ist dafür bezeichnend. Spekulanten stehen seit Jahren bereit, um die 385 Hektar Land mitten in der deutschen Hauptstadt einer maximal privaten Nutzung zuzuführen. Und lange sah es auch so aus, als wäre dies nicht zu verhindern. Doch letztlich gelang es einer Initiative, eine Volksabstimmung über die Zukunft des Tempelhofer Feldes zu erzwingen. Mehr als 185.000 Bürger hatten sie eingefordert – um die Allmende „Tempelhofer Freiheit“ zu sichern. Die taz schrieb dazu: „Sie verstehen die weite Wiese als Gemeingut, als Allmende, als Land also, das allen gehört und das nicht an Investoren verkauft werden soll. Spazieren gehen, Spielen, Joggen, Grillen – alles ist möglich auf der riesigen Fläche. Feldlerchen brüten auf dem Gelände, und Anwohnende haben Gemeinschaftsgärten gegründet, wo alles in Kistenbeeten gezogen wird. “

Der Volksentscheid vor einem Jahr über die Zukunft des Tempelhofer Feldes machte den Planungen des Senats damit einen dicken Strich durch die Rechnung. Statt der vorgesehenen „Randbebauung“ mit 4.700 Wohnungen und zahlreichen Gewerbeeinrichtungen bleibt die größte Allmende Berlins der Allgemeinheit zugänglich.

Die Allmende als Zukunftsmodell?

Der Allmende-Gedanke gewinnt also zunehmend Anhänger – und er wird mehrheitsfähig in der Mitte der Gesellschaft. Aber ist die Allmende heute eine zeitgemäße Antwort auf die Herausforderungen der Transformnation? Ohne Zweifel ist das Konzept der Allmende attraktiv. Es fördert Nachhaltigkeit, weil es auf Nutzung statt Verbrauch ausgerichtet ist. Es ist effizienter als Privatbesitz, weil es ermöglicht, Nichtnutzung zu korrigieren. Es wirkt sozial ausgleichend und fördert Kommunikation statt Konflikt. Aber auch Allmende bedeutet Nutzung – und in einem zunehmend be- und überlasteten Ökosystem Erde braucht es Bereiche, in denen nicht nur kein Verbrauch, sondern auch keine menschliche Nutzung stattfindet. Regen- und andere Urwälder verkraften auch eine Allmende-Nutzung nur in kleinstem Maßstab, bei geringster Bevölkerungsdichte. Die Überfischung der Meere ist auch mit Allmendeähnlichen Nutzungskonzepten nicht zu wirklich zu beseitigen – sondern nur mit konsequenter Nichtnutzung. Die Zahl und Fläche von Naturschutzgebieten mit absolutem Nutzungsverbot – und das meint auch touristische Nutzung – bedarf einer deutlichen Steigerung.

Die Allmende ist eine starke Alternative zur privatwirtschaftlichen Nutzung von Land und anderen Ressourcen. Sie ist ein wichtiges, ja wesentliches Standbein einer Zukunftsökonomie. Sie hat eine große, bedeutende Perspektive. Ganz besonders dann, wenn wir den Allmendegedanken auf die globale Dimension erweitern. Denn wie die Bauern ihre Allmende-Weide im Mittelalter so sollten wir auch unseren Planeten betrachten: Indem wir akzeptieren, dass wir nicht alles nutzen können, was kurzfristig möglich wäre sondern ihn für die kommenden Generationen bewahren. Oder, um es mit den überlieferten Worten des Häuptlings der Suquamish zu sagen:

„Denn das wissen wir, die Erde gehört nicht den Menschen, der Mensch gehört zur Erde – das wissen wir. “