Bedingungen der Wissenschaftswende von Hans-Jochen Luhmann

Dr. Hans-Jochen Luhmann, freier wissenschaftlicher Mitarbeiter des Wuppertal-Instituts, hielt am 25. September 2012 in Berlin im Rahmen der Präsentation des JAHRBUCH ÖKOLOGIE 2013 einen viel beachteten Vortrag über die Notwendigkeit und die Bedingungen einer Wissenschaftswende. Seine Kernthese: So wie die Wissenschaft gegenwärtig aufgestellt ist, so wie forschungspolitische Prioritäten gesetzt werden, kann die Wissenschaft nicht liefern, was die Gesellschaft braucht.

Wir dokumentieren seine Rede hier in voller Länge:

Das Jahrbuch ist, so der Untertitel, „In memoriam Günter Altner“ verfasst. Das passt zu meinem Thema, denn Günter Altner hat präzise gesehen, dass die Gesellschaft durch wissenschaftliche Entwürfe gestaltet wird. Um mitmischen zu können, sein Impuls, ein Bürgergetragenes wissenschaftliches Institut, das Öko-Institut in Freiburg, zu gründen. Nun vier Bemerkungen.

  1. Wir sind bekanntlich, wie Nobelpreisträger Paul Crutzen als erster formuliert hat, ins Zeitalter des Anthropozän eingetreten. Das heißt, der Mensch ist die dominante Natur-Macht geworden. Das System, welches den Menschen, sein Leben trägt, nennt man Gesellschaft. Die Gesellschaft ist eingebettet in ein Umfeld, die Natur – die aber ist zunehmend menschgemacht. Um seines Lebens willen ist der Mensch auf die Stabilität des Systems „Gesellschaft“ angewiesen. Die Stabilität eines Systems (bzw. ihr Gegenteil) hängt ab von seinem Innen wie von seinem Außen. Die Bedingungen der Stabilität – in den Sphären innen wie außen – hat der Mensch zu managen. Und das in globalem Maßstab. Das ist eine geschichtlich neue Herausforderung. Neuerdings hat sich eine Konkretion dieser Herausforderung ergeben.
    Sie entspricht einer Einsicht in das Klimaproblem: Das Klimaproblem ist Effekt eines Entwurfs menschlicher Gesellschaft, der fossil basierten Industriegesellschaft. Die wurde vor gut zwei Jahrhunderten in England ‚erfunden’. Die anstehende Aufgabe, so die konkretisierende Einsicht: Wir müssen heraus aus allem, was die fossil basierte Industriegesellschaft ausmacht, wir müssen hinein in die post-fossilen Industriegesellschaft. Deren Konzept haben wir zu entwerfen. Wir müssen das ‚Fossile’, wörtlich das ‚Vergrabene’, unter der Erde lassen. Wir müssen aufhören, das, was unter der Erde liegt, als ‚Bodenschätze’ zu begreifen. Die Depots müssen Depots bleiben. Wir müssen stattdessen einem Konzept von Gesellschaft folgen, in dem wir mit dem aktuell Gegebenen auskommen. Da der Energiefluss von der Sonne den menschgemachten Energiebedarf um den Faktor 5.000 übertrifft, ist das auch gut möglich.
  2. Ich habe eben mehrere Sätze mit „wir müssen“ formuliert. „Wir“ ist das Subjekt kollektiven Handelns, dafür steht „Politik“. Die Politik habe – ggfls., hoffentlich – dank angemessener Mandate und Verfassungen, eines Tages die hinreichende Macht zum Handeln, zum Durchsetzen des Erforderlichen. Das allein aber reicht nicht. Denn handeln kann sie nur, indem sie Konzepte, Entwürfe, realisiert. Autor von Konzepten aber ist nicht die Politik. Autor von Konzepten, von Entwürfen, einem künstlerischen Akt übrigens, ist die Wissenschaft, bzw. sie hat es zu sein. Auch hinsichtlich der Erkenntnis der Bedingungen von Stabilität, innen wie außen, ist die Politik auf die Wissenschaft angewiesen. Die Politik braucht somit die Wissenschaft in mehrerlei Hinsicht. Sie braucht aber nicht irgendeine Wissenschaft, sondern eine, die das alles auch kann – und dann auch liefert. Sie braucht eine angemessen potente Wissenschaft, deren Freiheit garantiert ist und die ihre Kompetenzen in Freiheit dem Dienst an der Gesellschaft widmet. Sie braucht eine Wissenschaft, die sich dem Service-Gedanken verpflichtet sieht. Hier nun kommt die Kritik an der bestehenden Wissenschaft und den aktuell verfolgten Prioritäten der Forschungspolitik ins Spiel. So wie die Wissenschaft gegenwärtig aufgestellt ist, so wie forschungspolitische Prioritäten gesetzt werden, kann die Wissenschaft nicht liefern, was die Gesellschaft braucht. Das ist keine neue Erkenntnis.
    Das hat Georg Picht bereits 1968 in seiner weit verbreiteten Vorlesungsreihe (Mut zur Utopie) zu den „Großen Zukunftsaufgaben“ deutlich gemacht. Drei von zwölf Vorträgen gelten der Wissenschaft, weil die zentral ist dafür, die Bedingungen erfolgreichen politischen Handelns zu liefern – sowohl auf der Seite der Problem-Wahrnehmung als auch auf der Seite der materiellen Lösungsbeiträge, zu technischen und sozialen Innovationen, wie schließlich zu (politischen) Konzepten.
    Das hat 1991 der Rat von Sachverständigen für Umweltfragen (SRU) in seinem Sondergutachten „Allgemeine ökologische Umweltbeobachtung“ – zumindest partiell – zum Thema gemacht und ebenso der Wissenschaftliche Beirat Globale Umweltveränderungen (WBGU) in seinem Wissenschaftsgutachten 1996. Der Punkt ist also nicht neu. Die Strategie, die hier verfolgt wird, ist die des „Steter Tropfen höhlt den Stein“. In seinem Gutachten „Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation“ von 2011 hat der WBGU das (iv) in einem Kapitel wieder aufgegriffen. Daran schließen wir an mit unserem Beitrag im „Jahrbuch Ökologie 2013“ – wir, die Autoren Schneidewind und Luhmann.
  3. Es geht dem WBGU und auch uns, das ist das Schlüsselwort, um eine Öffnung für transdisziplinäre Forschung, oder Englisch: um sustainable science – nicht nur um science for sustainability. Der Kern ist, dass Wissenschaft sich wandelt, präziser: dass sie sich sozial öffnet, sie ihre Produkte nicht länger definiert dadurch, dass sie von „Wissenschaftlern“ sind, also allein von Personen, die in Institutionen der Wissenschaft ihr Brot verdienen. Zur Problemanalyse wie auch für das Erarbeiten von Lösungskonzepten bedürfen wir der Mitarbeit, der Kooperation weiterer Stakeholder der Gesellschaft. Die Mehrzahl der Akademiker arbeitet schließlich nicht innerhalb der Wissenschaften, und zudem haben sie den Vorteil, dass sie Zugang zu Wissensbeständen haben, die der allgemeinen Öffentlichkeit nicht (ohne weiteres) zugänglich sind. Und schließlich gilt die Alltagsweisheit: Ein Subjekt, das nicht beraten sein will, dem können Sie noch soviel gute Ratschläge geben und bestens ausgearbeitete Konzepte vorlegen – es wird sie nicht annehmen. Es wird im besten Fall die Ohren zumachen, im schlimmsten Fall den Überbringer der unerwünschten Botschaft aus- schließen lassen – Beispiele sind Legion.
  4. Mitnehmen sollte man als Botschaft noch dies: Unser Anliegen ist nicht der Ruf nach einer Revolution der Wissenschaft – wir schätzen die vorfindliche Wissenschaft und ihre Leistungsfähigkeit hoch. Unser Punkt ist lediglich: Die skizzierte Art von Wissenschaft braucht ein Heimatrecht, eine stabiles Daseins- und Tätigkeitsfeld innerhalb des etablierten Wissenschaftssystems. Das entsteht nicht einfach durch ‚Gründung’.

Es ist da vielmehr eine Tücke mit dem etablierten Wissenschaftssystem zu beachten. Dieses ist ja ein Subsystem der menschlichen Gesellschaft, für das die Gesetze der Freiheit gelten. Solche Systeme entwickeln sich, wie biologische Systeme auch, gemäß den Anreizen, die ihr Umfeld (ihre Umwelt) bietet. Im Falle des Wissen- schaftssystems gilt nun die Besonderheit, dass sie sich die Anreize setzt selbst – oder auch nicht. Es ist Subjekt und Objekt von Wissenschaftspolitik zugleich. Wir machen auf Zweierlei aufmerksam; dass das Qualitätsverständnis von Wissenschaft eine zentrale Rolle bei ihrer Selbststeuerung spielt, ohne dass die Akteure der Wissenschaftspolitik dessen gewahr sind; und , dass das bisherige Qualitätsverständnis einer transdisziplinären Wissenschaft keine echte Chance lässt, ihre Nische zerstört. Sämtliche aufkeimenden Ansätze, die in Folge der zitierten vier Aufforderungen projektförmig immer wieder auf die Schiene gesetzt worden sind, wurden gleichsam automatisch und ‚bewusstlos’ ausradiert. Das aber geht in Zukunft – im Zeitalter des Anthropozän – nicht mehr. Das ist nicht länger akzeptabel, so unser Votum.

Den vollständigen Beitrag von Luhmann und Schneidewind finden Sie im aktuellen JAHRBUCH ÖKOLOGIE.

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