Die Welt von morgen definieren von Dr. Stephan Sigrist

Die Zukunft ist nicht vorhersehbar. Zwar zeichneten Visionen von Science-Fiction-Autoren wie Jules Verne oder Albert Robida bereits zum Ende des 19. Jahrhunderts ein erstaunlich präzises Bild unserer Zeit: Millionenstädte, Reisen zu andern Gestirnen, Online-Musik oder die mediale Inszenierung von Krieg wurden schon damals beschrieben. Heute sind sie Realität. Doch aus ebenso vielen unerfüllten Prophezeiungen wissen wir, dass sich die Zukunft der Quantifizierung durch die Methoden der Wissenschaft entzieht. Die Zeit nach der Gegenwart entwickelt sich in der Art eines komplexen Systems, das von einer schier unendlichen Zahl von miteinander verknüpften Faktoren beeinflusst wird, immer wieder überraschend.

Dennoch versucht die Menschheit seit je die Zukunft zu deuten. Denn ob als Vorhersage von individuellen Schicksalen, von Kriegsglück oder Reichtum, die Vorwegnahme ist eine Grundstrategie des Lebens. Eine Ahnung des Bevorstehenden sichert die rechtzeitige Anpassung und den Wettbewerbsvorteil von einzelnen Menschen, Staaten und Unternehmen. Gerade in Zeiten des Wandels wie der Finanzkrise, der Entstehung einer multipolaren Weltordnung, des Klimawandels oder der Beschleunigung des technologischen Fortschritts wächst die Dringlichkeit, sich mit der Welt von morgen auseinanderzusetzen. Trotz oder wegen der Schwierigkeit, die Zukunft zu messen und in konkrete strategische Massnahmen umzusetzen, werden Entscheide in Politik und Unternehmen auf Basis des Tagesgeschäftes und kurzfristiger Zielsetzungen gefällt.

Trotz Globalisierung und digitaler Vernetzung sind viele Teilsysteme aus Wirtschaft, Politik und Wissenschaft nur bedingt miteinander verknüpft. Deshalb haben die Auswirkungen von Handlungen oft keine rückwirkenden Konsequenzen für den Verursacher. Die Rückkopplung zwischen verschiedenen Handlungsbereichen und deren Folgen für die Zukunft fehlt.

Langfristig denken

wasserquelleDie Notwendigkeit, in Quartalsberichten Rechenschaft über den Erfolg des Geschäftsgangs abzulegen oder in Vierjahreswahlzyklen politische Programme umzusetzen, mag als vordergründige Erklärung dienen. Es ist aber unbestritten, dass eine nachhaltige Unternehmensstrategie genauso wie ein zukunftsorientiertes politisches Ziel nicht ohne die vertiefte Auseinandersetzung mit langfristigen Entwicklungen auskommt. Vor diesem Hintergrund ist die wachsende Zahl von Futurologen und Trendforschern bemerkenswert und in einem positiven Sinnkenn zeichnend für die wachsende Bereitschaft von Institutionen aus Wirtschaft und Politik, zukunftsorientierte Strategien zu entwickeln. Allerdings reicht die Bereitschaft nicht aus. Im relativ jungen «Markt» für Zukunftsfragen werden oft einseitige und unkritische Konzepte und Methoden der Zukunftsforschung feilgeboten, die mit den Prinzipien von seriöser strategischer Planung und Wissenschaftlichkeit wenig gemein haben. Zwei Tendenzen sind dabei kritisch:

Einerseits liegt es in der von Normierung und Imitation geprägten Massengesellschaft nahe, die Zukunft direkt von der Vergangenheit ab zuleiten. Eine lineare Extrapolation des Bestehen den führt aber nicht zwingend zu gesicherten Zukunftskenntnissen. Im Gegenteil: Die Annahme, dass sich Unternehmensstrategien auf Basis positivistischer Denkmodelle planen lassen, führt zu überhöhten Erwartungen und Blasenbildungen.

Alten Wein in neue Schläuche füllen

Andererseits benutzen zukunftsbegeisterte Menschen den Begriff Trend synonym mit den jüngsten Modeerscheinungen oder lustigen neuen Konsumgütern. Auf der Suche nach dem neusten «Next Big Thing» werden laufend Wortschöpfungen kreiert – in der Hoffnung, der Begriff könne sich in der Öffentlichkeit durchsetzten. Neue Kundengruppen werden mit Begriffen wie «Sellsumers» (Menschen, die ihr Wissen an Unternehmen verkaufen oder ihren Besitz weiterverkaufen) bezeichnet, Geschäftsmodelle wie «Perkinomics» beschreiben die Aufwertung einer Marke durch bessere Leistungen der Produkte. Tatsächlich ist der effektive Nutzen dieser Art von Zukunftsanalysen als Entscheidungsgrundlage mehr als fragwürdig und vor dem Hintergrund, dass dabei im besten Fall alter Wein in neuen Schläuchen für stattliche Preise feilgeboten wird, auch aus ethischer Sicht kritisch zu bewerten.

Erstens werden vor diesem Hintergrund Entscheide auf falschen Annahmen getroffen. Beispielsweise wird das Potenzial einer Technologie überschätzt oder Konsequenzen aus anderen Einflussbereichen wie die gesellschaftlichen Werte werden nicht oder zu wenig berücksichtigt. Die Dotcom-Blase Ende der Neunzigerjahre oder der Versuch genveränderte Lebensmittel im europäischen Markt zu etablieren können als Beispiele solcher falscher Einschätzungen dienen. Die unkritische Fokussierung auf den Wandel klammert aus, dass sich die Welt nicht dauernd in immer höherer Geschwindigkeit verändert, sondern nur sehr langsam.

Zweitens fördert ein produktbasiertes Trendverständnis kurzfristiges Denken. Weil die Auseinandersetzung mit der Zukunft nur vermeintlich stattgefunden hat und ausser abstrakten Marketingbegriffen keine konkreten Handlungsfelder aufzeigt, entpuppt sich die langfristige Planung als Alibiübung und mündet darin, ohne Hinterfragung die bestehende Strategie weiterzuführen. Im Grundsatz ist der Versuch, neue Entwicklungen zu beobachten, die wirtschaftliche, gesellschaftliche oder politische Phänomene beschreiben, die sich nicht mit bestehenden Terminologien und Modellen erklären lassen, lobenswert und elementar. Dies ist der Zweck von Forschung. Die Wissenschaft sucht nach Erkenntnissen, nicht nach Produkten. Die Molekularbiologie will beispielsweise nicht in erster Linie ein Medikament entwickeln und verkaufen. Sie will verstehen, wie Zellen oder ein Organismus funktionieren, wie Gene zu Proteinen werden und wie Krankheiten entstehen. Zwar ergeben sich aus den Ergebnissen der Forscher konkrete Produkte. Vielfach werden diese aber zufällig entdeckt oder offenbaren Eigenschaften in einem anderen Anwendungsgebiet als dort, wo sie ursprünglich eingesetzt wurden. Das muss auch die Grundlage sein in der Auseinandersetzung mit der Zukunft.

Forschungsmethoden offenlegen

Es ist nicht verwerflich, sich mit der Zukunft zu beschäftigen, nur weil sie schwierig zu fassen ist. Es ist legitim, nach Mechanismen zu suchen und diese, falls möglich, als Basis für Prognosemodelle zu nutzen. Es ist auch legitim, neue Produkte und Mikrotrends zu analysieren und deren Erfolg am Markt als Evidenz zu nutzen, um ein übergeordnetes Phänomen zu beschreiben. Die Voraussetzung, um sich aus einer wissenschaftlichen, ethischen Grundlage mit der Zukunft zu beschäftigen, ist die klare und transparente Offenlegung der Forschungsmethoden und die Beschreibung der jeweiligen Potenziale und Grenzen. Vor allem gilt es, ausgehend von der Komplexität der Wirtschaft, der gesellschaftlichen, politischen und biologischen Systeme, die Grenzen der Prognosemöglichkeiten klar zu deklarieren. Das schliesst die Berücksichtigung von Science Fiction nicht aus, im Gegenteil: Aufgrund der wachsenden Komplexität des Lebens, des exponentiellen Fortschritts und kurzfristigen, nicht antizipierbaren Einflussfaktoren müssen Vorstellungen der Zukunft auch für das komplett Neue offen sein. Das Verdienst von Verne und Robida liegt daher weniger in ihren konkreten Prophezeiungen, sondern vor allem in ihrer Inspiration von Forschern, Unternehmern und Künstlern. Gerade die Beschäftigung mit Phantastischem und Unvorstellbarem kann eine elementare Grundlage für echte Innovation sein. Nur: Sie muss zweckfrei geschehen.

Zusammenfassend lassen sich zwei generelle Voraussetzungen beschreiben, um langfristige, zukunftsorientierte Strategien zu entwickeln:

1. Reduktion auf das Wesentliche: Statt sich mit einer Vielzahl von Mikrotrends und spannenden, aber letztlich kaum relevanten kurzfristigen Tendenzen zu beschäftigen, gilt es die zentralen Strategien auf die wirklich bedeutenden Veränderungen auszurichten. Dies betrifft aus allgemeiner Perspektive Entwicklungen wie den demografischen Wandel, die Globalisierung, den wachsenden Bedarf für Infrastruktur oder die Digitalisierung der Welt. Diese Tendenzen sind bekannt, trotzdem fehlen Lösungsansätze. Die eigentlichen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts sind entsprechend die Alltäglichkeiten, weniger die Überraschungen. Gleichzeitig bedeutet der Fokus auf das Wesentliche nicht, die Augen vor Neuem oder auf den ersten Blick weniger Relevantem zu verschliessen. Vielmehr geht es da rum, regelmässig nach den wirklich wichtigen Entwicklungen zu suchen und Mikrotrends, die das Potenzial haben, die Zukunft zu prägen, als diese zu erkennen.

2. Ganzheitliches Denken: Chancen aber auch Risiken der langfristigen und schwergewichtigen Trends erschliessen sich vielfach nur durch ganzheitliche oder interdisziplinäre Analysen. Weil die Zukunft durch viele Entwicklungen geprägt ist, braucht es Modelle, welche die Welt als multipolare Vernetzung von langfristigen Entwicklungen aus unterschiedlichen Einflussfeldern verstehen. So ist das Potenzial neuer Technologien nur unter Berücksichtigung anderer Einflussbereiche ein schätzbar: Biodiesel beispielsweise wurde bis vor kurzem als geniale Lösung für die zunehmende Energieknappheit gefeiert. Wenig später stellte sich heraus, dass die Rohstoffnutzung für die Energieproduktion die Nahrungsmittelherstellung konkurrenziert. Daraus resultieren Preissteigerungen mit fatalen Folgen für die Ernährung der Bevölkerung in Entwicklungsländern. Um kurzfristige und einseitige Verhaltensweisen zu verändern, braucht es Transparenz darüber, wie die verschiedenen Teilsysteme der Wirtschaft, der Politik, der Gesellschaft oder der Technologie miteinander verknüpft sind. Nur dann entwickeln sich nachhaltige Konzepte und Strategien, die sicher stellen, dass die Grundlagen und Rohstoffe auch künftigen Generationen zur Verfügung stehen.

Kein Patentrezept

Natürlich stellt sich die Frage nach den konkreten Folgen, die diese Überlegungen für Unternehmen oder politische Institutionen haben. Dabei gilt: Es gibt kein Patentrezept für Zukunftsfähigkeit. Genauso wenig wie es all gemeingültige Lösungen für die Entwicklung von Innovation gibt. Trotzdem lassen sich Bestandteile von Konzepten identifizieren, die helfen, die Auseinandersetzung mit der Zukunft zu vereinfachen. Hierzu zwei Ansätze:

1. Gründung einer externen Zukunftsplattform: Die Entwicklung von langfristigen Strategien erfordert ergänzend zu den bekannten und gut dokumentierten Ansätzen klare institutionelle Strukturen. Während diese in politischen Institutionen oft fehlen sind sie in Unternehmen in Business-Development-Abteilungen, VR-Mandaten oder bei externen Beratern klar zugeordnet. Allerdings unterliegen interne Strategieabteilungen oft der Problematik der internen Optik und haben die Tendenz, bestehende Ansichten über mögliche relevante Entwicklungen nur aus dieser Sicht einzustufen. Zudem sind diese Mitarbeiter häufig damit betraut, konkrete alltagsbezogene Projekte umzusetzen, was den Blick für das grosse Ganze limitiert. Externe Berater bringen die objektivere Sichtweise in eine Institution und schaffen da durch Mehrwert. Gleichzeitig wird die Objektivität eingeschränkt, da für Berater längerfristige und personalintensive Implementierungsprojekte ökonomisch interessant sind. Zudem werden strategische Mandate vielfach kurzfristig verge­ben, was einen kontinuierlichen Dialog mit dem Management erschwert. Eine Alternative zu den bestehenden Modellen ist die Gründung einer externen Expertengruppe als eine Art «Think Tank». Diese beschäftigt sich losgelöst vom Alltagsgeschäft mit den relevanten Entwicklungen und trägt diese zurück ins Unternehmen. Hierbei werden neue Erkenntnisse von aussen kritisch reflektiert, gleichzeitig müssen Erkenntnisse, die innerhalb des Unternehmens reifen, mit zusätzlichen Analysen vertieft werden. In einem ersten Schritt gilt es, sich mit dem «Denkbaren» zu beschäftigen. Zentral ist es, sich von konkreten Quartalszielen loszulösen und sich echt und offen mit den für das Unternehmen wichtigen Zukunftsfragen auseinanderzusetzen. Erst in einem zweiten Schritt wer den wichtige Tendenzen in «machbare» Konzepte umformuliert, deren Umsetzung dann wieder in der Kompetenz des Unternehmens liegt.

2. Die Etablierung einer Fehlerkultur: Der wachsende Druck für schnellen Erfolg und die zunehmende Messbarkeit der Performance von Unternehmen und Mitarbeitern fördert die stärkere Ausrichtung auf Kurzfristigkeit. In diesem Prozess der laufenden Optimierung ist über die vergangenen Jahre eine zentrale Grundlage, die gleichzeitig die Basis für Forschritt, Innovationen und Zukunftsfähigkeit legt, in Vergessenheit geraten: die Imperfektion.

Ein Beispiel für die Notwendigkeit von Prozessen, die Fehler ganz bewusst einbauen, liefert die Evolution. So basiert die natürliche Selektion auf dem Prinzip, dass Organismen im Lauf der Zeit immer wieder neue Eigenschaften entwickeln, die sich dann durchsetzen, wenn sie der Spezies helfen, jedoch untergehen, wenn sie der Spezies keinen Nutzen bringen. Bei Bakterien führt diese Strategie innerhalb von kurzer Zeit zur Resistenzfähigkeit gegen Antibiotika, wir Menschen verdanken diesem Prinzip – in einer längeren Zeit spanne – die Fähigkeit zu denken. Die Grundlage für die Möglichkeit neue Eigenschaften zu entwickeln und diese bei Erfolg weiter auszudifferenzieren beruht auf der Tatsache, dass Erbgut bei der Fortpflanzung fehlerhaft kopiert wird: Einzelne DNA-Bestandteile werden bei der Zellteilung nicht orginalgetreu, sondern leicht verändert weitergegeben. Diese Veränderungen tragen dazu bei, dass neue Eigenschaften getestet werden, die im positiven Fall einen Vorteil gegen über anderen ergeben.

Aus Fehlern lernen

Nationen und Organisationen, die langfristig auf Innovation setzen, brauchen deshalb eine neue Fehlerkultur. Die Imperfektion und Fehler müssen als unabdingbarer Teil des Weges zu mehr Fortschritt wertgeschätzt wer den. Dabei geht es nicht darum, zu Fehlverhalten jeglicher Art zu animieren, sondern Fehler im Kleinen zu tolerieren und damit Grossrisiken zu. Ein Beispiel: In Branchen mit hohen Sicherheitsrisiken und hierarchischen Strukturen hat sich ge zeigt, dass die Anonymisierung von Fehlermeldungen zu einer signifikanten Steigerung der Qualität führt. Fluggesellschaften richteten flache Hierarchien im Cockpit und vor allem anonyme Meldesysteme für Beinahepannen ein. Diese er möglichen Mitarbeitern, Fehler einzugestehen, ohne dafür bestraft zu werden. Die Organisation kann so grössere Fehler wie den Absturz von Flug zeugen vermeiden. Entsprechende Systeme haben das Potenzial, um in andere Branchen von der Medizin, über Banken, Ölförderungsgesellschaften bis zur Politik übertragen zu werden.

Der Autor

Stephan Sigrist, Dr. sc. ETH, ist Gründer und Leiter des Think Tanks W.I.R.E. (Web for Interdisciplinary Reseach & Expertise) der Bank Sarasin und des Collegium Helveticum von ETH und Universität Zürich.

Das Buch

dominoBlaufelder, Ch. ; Sigrist, S.; Varnholt, B.; Folkers, G. (2010):
Domino – Handbuch für eine nachhaltige Welt
NZZ-Verlag / Frankfurter Allgemeine Buch, Zürich / Frankfurt a. M.
ISBN 3899812433
39,90 Euro
Erhältlich bei Amazon oder im Buchhandel.