Digitalisierung und Nachhaltigkeit Jörg Sommer über ein schwieriges Verhältnis

Die Digitalisierung verändert alles: Wie wir arbeiten, wie wir leben, wie wir kommunizieren, wie wir denken. Sie wird als vierte industrielle Revolution bezeichnet. Sie ist mehr als das. Sie ist Katalysator fundamentaler Umwälzungen in unserer Gesellschaft. Sie ist Auslöser und Beschleuniger von Veränderungen. Eines aber ist sie nicht: nachhaltig.

Einerseits waren wir noch nie so digitalisiert wie heute. Andererseits haben wir noch nie so viele Ressourcen verbraucht. Die Nutzung und die Verschleuderung umweltschädlicher fossiler Ressourcen schreiten ungebremst zu neuen Rekordhöhen voran. Dies zeigen die vom Energiekonzern BP kürzlich publizierten Weltenergiezahlen 2018. Aus dem BP Report geht hervor, dass sowohl bei der Erdölförderung als auch beim Erdölverbrauch neue historische Rekordwerte erreicht wurden. Die Zunahme bei der Produktion geht im Wesentlichen auf die um einen Sechstel (!) gesteigerte Förderung in den USA zurück, die das naturschädliche Fracking hemmungslos ausnutzen. Der weltweite Mehrverbrauch geht vor allem auf die Kappe der USA und China. In der Summe führte dies zu einer Steigerung des CO2 Ausstoßes um 2 Prozent – der höchsten Zuwachsrate in den letzten sieben Jahren.

Die Menschheit ist also immer digitaler unterwegs – und zugleich kein bisschen nachhaltiger. So einfach ist es also nicht mit der Digitalisierung, denn wie alle technologischen Revolutionen vor ihr, wird sie zunächst einmal nicht vom Drang getrieben, den Planeten zu schützen oder die Gesellschaft gerechter zu machen, sondern schlicht aus wirtschaftlichem Gewinnstreben. Treiber sind insbesondere international agierende Konzerne mit unglaublichen ökonomischen Ressourcen. In wenigen Jahren sind sie damit zu den gewinnträchtigsten Unternehmen weltweit aufgestiegen. Die im DAX vereinten deutschen Traditionsunternehmen sind im Vergleich zu den Big Five des Silicon Valley inzwischen ökonomische Winzlinge Und während Deutschland über den Ausbau des Glasfasernetzes diskutiert, treiben Amazon, Apple und Co seit einem Jahr ihre US-Regierung erfolgreich an, bei der Welthandelsorganisation Vorschläge zum Thema E-Commerce einzureichen. Ihr Ziel, ist es, die globalen Absatzmärkte dauerhaft zu sichern. Welche Rolle spielt bei diesen Überlegungen die Nachhaltigkeit? Schlicht keine. Das heißt nicht zwingend, dass die Digitalisierung diesbezüglich keine positiven Auswirkungen haben kann. Ihr diese jedoch quasi systemimmanent zuzuschreiben, dazu gibt es keinen Anlass.

Betrachten wir also die nachhaltigkeitsbezogenen Wirkungsmuster der Digitalisierung. Aktuell spielt sie hier eine doppelt problematische Rolle:

Die doppelte Nichtnachhaltigkeit der Digitalisierung

Zum einen ist die Erschließung neuer fossiler Rohstoffquellen heute ohne die digitale „Vermessung der Welt“ nicht mehr denkbar. Suche, Erkundung und letztlich Förderung von Öl, Kohle und anderen Energieträgern ist ein hoch digitalisierter Prozess – genauso übrigens wie die Aufbereitung und letztlich die Energieumwandlung in Kraftwerken. Die Digitalisierung macht diese Prozesse dabei in der Tat effizienter. Sie macht dadurch aber auch erst die Erschließung von Ressourcen ökonomisch interessant, die anders ungenutzt geblieben wären.

Weitaus dramatischer ist aber die zweite Problematik: Als Spitzentechnologie einer hochkomplex-industrialisierten globalen Wirtschaft treiben die Bedürfnisse der Digitalbranche zahlreiche andere Industriesektoren an.

Dazu zählt nicht nur der unvorstellbar hohe Energieverbrauch, den digitale Strukturen und Prozesse heute generieren. Wenn das Internet ein Land wäre, wäre es der sechstgrößte Stromverbraucher der Welt. Der Schweizer Forscher Lorenz Hilty hat errechnet, dass alleine Youtube täglich so viel Strom frisst, wie alle Schweizer Haushalte zusammen).

„Wachsen, wachsen, wachsen!“ ist also das Mantra der digitalen Welt. Das Beratungsunternehmen Roland Berger schätzt, die Digitalisierung könne bis 2025 allein in Deutschland ein zusätzliches Wertschöpfungspotential in Höhe von 425 Milliarden Euro eröffnen. Dieses Wachstumsmantra gilt für die digitale Innovationsspirale als Ganzes. Grundsätzlich ist nur eine hochinnovative, auf brutalstmögliches Wachstum ausgerichtete industrielle Gesellschaft in der Lage, in kürzesten Intervallen immer neue technologische Sprünge zu generieren Zum Wesen der Digitalisierung gehört eine extreme Beschleunigung von Innovationsprozessen.

Digitalisierung verhindert Lösungsdruck

Zusätzlich zu den zuvor geschilderten Zusammenhängen ist die Digitalisierung ein wichtiger Faktor in der Entwicklung der „Wachstumskosten“. Wirtschaftliches Wachstum ist noch immer Basis aller unserer westlich-industriellen Wohlstandsfantasien. Staatshaushalte, Sozialsysteme, Gesundheitsfürsorge, Bildung, Alterssicherung – all das ist so organisiert, dass es nur auf Grundlage eines realen Wirtschaftswachstums finanziert werden kann. Unsere Wirtschafts- und Gesellschaftsform braucht in der Tat permanentes Wachstum.

Dieses Wachstum zu generieren wird aber zunehmend teurer. Die Kosten für die Gewinnung von fossiler Energie steigen kontinuierlich. Zunehmend Effizienz durch Digitalisierung dämpft war diese Abbaukosten, macht bestimmte Energieträger sogar erst zugänglich, ist aber durch immense Begleitkosten eben für die dazu notwendigen digitalen Tools bestimmt. Diese Kosten werden jedoch häufig durch Verlagerung und Subventionierung „versteckt“.

Tatsächlich sind aktuell die realen Wachstumskosten (inklusiver langfristiger ökologischer Schäden) so hoch, dass man letztlich konstatieren muss: Wir wachsen uns arm. Denn das Klima haben wir so ganz nebenbei noch ruiniert. Die Grenzen des Wachstums wurden überschritten, und längst wird uns dafür die Rechnung präsentiert. Wer sich ans Wachstumsmantra klammert, kann die globalen Probleme nicht lösen.

Hinzu kommt: Wir wachsen uns nicht nur arm, wir wachsen uns auch gesellschaftlich auseinander. Seit 1980 ist vom gesamten Wirtschaftswachstum gerade einmal 12% bei der ärmeren Hälfte der Menschheit angekommen. Gleichzeit vereinnahmen die 1% reichsten Menschen 27% des Wachstums. Schon 2016 besaßen weltweit gerade einmal acht Einzelpersonen mehr als die ärmeren 50% der Menschheit.

Weltweit hat die Wachstumspolitik weder Hunger noch Arbeitslosigkeit eingedämmt, wohl aber zu einer gewaltigen Spaltung zwischen Arm und Reich geführt.

Weiteres Wachstum wird unsere sozialen, ökonomischen und ökologischen Probleme verschärfen und uns immer tiefer in gefährliche Abhängigkeiten treiben. Wer die Zukunftsfähigkeit der Menschheit im Anthropozän – dem Zeitalter, in dem der Mensch statt der Natur das Aussehen der Erde bestimmt – ernsthaft gewährleisten will, muss zuallererst darüber nachdenken, wie er weiteres Wachstum wirkungsvoll verhindern kann. Und er muss wissen: Wachstum und Nachhaltigkeit sind deshalb im Anthropozän zwei verschiedene, sich gegenseitig ausschließende Konzepte.

Fazit:  Nichts nachhaltig an der Digitalisierung

Digitalisierung, so wie sie global aktuell umgesetzt wird, ist alles andere als nachhaltig. Der Ressourcenverbrauch ist enorm, der ökologische Nutzen gering. Die der Digitalisierung zugeschriebenen positiven, nachhaltigen Wirkungen sind überwiegend entweder nicht vorhanden, werden durch Reboundeffekte aufgefressen, in ihrer Gesamtbilanz fatal überbewertet. Dort wo sie vorhanden und unter dem Strich positiv sind, handelt es sich um im Verhältnis zur Gesamtbilanz marginalen Kollateralnutzen. Nichts spricht dagegen, diesen Nutzen zu intensivieren, aber alles spricht dagegen, sich die ökologische Gesamtbilanz der Digitalisierung schönzureden.

Die Wachstumsgesellschaft hat die ökologischen Grenzen des Planeten längst überschritten und ist an ihren ökonomischen Grenzen angelangt. Die Digitalisierung hilft dabei, letztere noch ein Stück weiter auszudehnen und die Folgen noch ein wenig länger zu ignorieren. Sie ist damit letztlich keine „Nachhaltige Therapie“ für unseren todkranken Planeten, eher eine Schmerztablette, in weiten Teilen sogar nur ein Placebo.

Die Frage, ob die Digitalisierung die Nachhaltigkeit befördert, ob sie „gut“ oder „schlecht“ ist, könnte also durchaus die falsche Frage sein. Genauso falsch wie die Frage, ob die Entwicklung der Dampfmaschine, die Elektrifizierung oder die Automatisierung an sich „gut“ oder schlecht“ waren.

Für die Digitalisierung jedenfalls gilt wie für die industriellen Revolutionen zuvor: Nichts was in dieser Welt schief läuft, wird durch Digitalisierung besser. Schon gar nicht, solange sie sich der gesellschaftlichen Kontrolle entzieht.

Letztlich ist die Digitalisierung in der Tat ein mächtiges Werkzeug, allerdings eines zu unglaublich hohen ökologischen Kosten – und in den falschen Händen. Das müssen wir ändern.